Eine Reihe von Mythen und Missverständnissen zum Thema Führung haben sich in Unternehmen bis heute hartnäckig gehalten. Sowohl Führungskräfte wie Mitarbeiter haben oft realitätsferne Vorstellungen von Führung. Das kann zu vermeidbaren Konflikten, Enttäuschungen und Ineffektivität führen. Umso wichtiger ist es, diese Führungs-Irrtümer auszuräumen und so die Grundlage für eine produktive Führungskultur zu schaffen.
In meinem Berufsleben sind mir die folgenden fünf Führungs-Irrtümer besonders häufig begegnet.
1. Nur wer eine offizielle Führungsrolle hat, kann und darf auch führen
Wer leistet Führungsaufgaben in Ihrem Unternehmen? Nur der Geschäftsführer, die Abteilungsleiter und die Teamleiter? Auch wenn es in vielen Unternehmen so erscheinen mag, ist Führung nicht an einen offiziellen Titel gebunden. Nach einer anerkannten Definition, die ich teile, ist Führung ein Prozess zwischen Führenden und Folgenden. Dieser Prozess beruht auf sozialer Einflussnahme zum Erreichen gemeinsamer Ziele. Wer führt, und wer folgt, ist dabei in modernen Unternehmen immer weniger an einen offiziellen Führungstitel gebunden.
Konkretes Beispiel: Eine Mitarbeiterin im Marketingteam schlägt vor, dass es an der Zeit für eine Neuauflage der Firmenbroschüre wäre. Sie bespricht den Vorschlag mit dem Marketingleiter und den anderen Teammitgliedern. Die stimmen zu, und die Mitarbeiterin koordiniert die Umsetzung. Wer hat geführt? Die Mitarbeiterin – die anderen sind ihr gefolgt und haben ihr Führungsrolle im Projekt “Neuauflage” akzeptiert. Wenn nur der Marketingleiter die Führung hätte übernehmen dürfen, wäre aus dem Projekt nichts geworden.
2. Einige Menschen sind von Geburt an zum Führen prädestiniert
Das Vorurteil, dass einige zum Führen geboren sind, hält sich hartnäckig. In Gesprächen habe ich immer wieder von “Alphatieren”, vorzugsweise Männern, gehört, die schon als Kind anderen gesagt haben, wo es langgeht. Ist es also schon im Kindergarten entschieden, wer im Berufsleben führt und wer folgt? Einige Ergebnisse der Persönlichkeitsdiagnostik scheinen diese Sichtweise zu unterstützen. So haben die norwegischen Forscher Øyvind Lund Martinsen and Lars Glasø in einer Studie von 2013 mit 2.900 norwegischen Führungskräften herausgefunden, dass folgende Persönlichkeitseigenschaften stark mit einer Führungsrolle korrelieren:
Hohe emotionale Stabilität
Hoher Grad an Extraversion
Hoher Grad an Offenheit
Diese Persönlichkeitsmerkmale bilden sich tatsächlich schon in Kindheit und Jugend heraus und verändern sich im Erwachsenenalter kaum noch. Ist also schon im Kindergarten klar, wer in die Chefetage kommt?
Ganz so einfach ist es nicht. Wie viele Beispiele von durchaus erfolgreichen Führungspersönlichkeiten in Wirtschaft und Politik demonstrieren, kann man auch dann erfolgreiche eine Führungsrolle übernehmen, wenn nicht alle traditionell mit Führung verbundenen Persönlichkeitseigenschaften im erwarteten Ausmaß vorhanden sind. Berühmte Beispiele für introvertierte Führungskräfte sind Microsoft-Gründer Bill Gates, Tesla-Chef Elon Musk, und Amazon-Gründer Jeff Bezos. In der Politik wäre Bundeskanzlerin Angela Merkel zu nennen. Alles keine klassisch extrovertierten Alphatiere, und doch haben sie in ihren Führungsrollen überdurchschnittlichen Erfolg.
3. Wer führt, weiß alles am besten und hat immer Recht
Viele Menschen glauben, dass die Legitimation, andere Menschen zu führen darauf basiert, schlauer zu sein und mehr zu wissen. Dieser Irrglaube wird nicht zuletzt dadurch gefördert, dass immer wieder Fachleute, die Überdurchschnittliches leisten, mit dem Aufstieg zur Führungskraft belohnt werden. Anfangs mögen diese fachlich versierten Führungskräfte tatsächlich mehr wissen als ihre Mitarbeiter. Nach einigen Jahren in einer Führungsrolle wird sich das allerdings ändern.
Was sich leider oft nicht ändert ist die Einstellung, es besser zu wissen. Einige Führungskräfte denken möglicherweise, dass es Ihrem Ansehen bei den Mitarbeitern schadet, wenn sie sich die vermeintliche Blöße geben, etwas nicht zu wissen. In Wirklichkeit ist meist das Gegenteil richtig: Mitarbeiter erwarten von einer/einem Vorgesetzten nicht, fachlich alles zu wissen und zu können. Was Führungskräfte wissen sollten ist, welcher Mitarbeiter die besten Kenntnisse zum Thema hat und sie/ihn um Rat fragen oder mit einer Aufgabe betrauen.
4. Wer führt, fällt alle Entscheidungen einsam und allein
Die amerikanische Führungsweisheit “It’s lonely at the top”, “Es ist einsam an der Spitze”, scheint von vielen Führungskräften immer noch für ein ehernes Gesetz gehalten zu werden. Entsprechend fällen sie ihre Entscheidungen einsam an ihrem Schreibtisch und teilen sie dann ihren Mitarbeitern mit. Je agiler Organisationen werden, desto mehr ändert sich das. Damit die Organisation schneller handeln kann, ist es wichtig, alltägliche operative Entscheidungen immer stärker an Mitarbeiter zu delegieren. Die Rolle von Führungskräften beschränkt sich auf Entscheidungen von größerer finanzieller und strategischer Tragweite. Und auch dabei ist es nicht empfehlenswert, Entscheidungen einsam und allein zu fällen.
5. Führung ist, wenn andere das tun, was man will – ob sie wollen oder nicht
Viele Führungskräfte, die lange Jahre in hierarchischen Organisationen gearbeitet haben, haben ein sehr einfaches Führungsverständnis: Für Sie ist Führung, wenn andere das machen, was sie sagen. Es basiert auf dem bedingungslosen Befolgen von Anweisungen. Dabei ist egal, ob die derart Geführten verstehen oder innerlich unterstützen was sie tun. Zunächst klingt dieses simple Führungsverständnis und -verhalten einleuchtend und effektiv. Allerdings gibt es dabei einen gewaltigen Haken: Bei Führung geht es um Menschen. Und jeder Mensch, ob Führender oder Folgender, hat Bedürfnisse, Wünsche und Ziele. Führung, die die Bedürfnisse anderer missachtet, wird über kurz oder lang nicht funktionieren.
Führung wird dann effektiv, wenn Führende sicherstellen, dass andere mit den Zielen and geplanten Aktivitäten übereinstimmen oder zumindest die Möglichkeit hatten, ihre Einwände einzubringen. Gerade in einer Arbeitsmarktsituation, die durch einen Mangel an Fachkräften gekennzeichnet ist, reicht bloßer Zwang nicht aus, damit Mitarbeiter sich die Vorgaben von Führungskräften zu eigen machen und in engagiertes Handeln übersetzen. Dies funktioniert auf Dauer nur durch Dialog und gegenseitiges Verständnis.
Fazit
Die fünf erläuterten Missverständnisse über Führung sorgen in manchen Unternehmen dafür, dass Führungsprozesse ineffektiv sind – mit negativen Folgen, wie demotivierten Mitarbeitern, geringer Arbeitsproduktivität und hoher Fluktuation. Sich diese Missverständnisse bewusst zu machen und ein besseres Verständnis von Führung zu erarbeiten, ist der erste Schritt zu einer produktiven Führungskultur. Wo diese Missverständnisse weiter das Führungsverhalten prägen, sind wirtschaftlich negative Folgen vorprogrammiert.